Sophie Liebhardt - Der Haushalt eines Dämons

Kapitel 1: Ein Pakt auf einer Parkbank

Die sonnigen Tage waren immer die schlimmsten. Fast wäre Felix zurück ins klimatisierte Gebäude geflohen. Aber nein, er musste den Kopf frei kriegen und so drehte er seine übliche Runde durch den Park.

Der Sommer hatte gerade begonnen: Blauer Himmel und Sonnenschein, aber noch keine unerträgliche Hitze, die alles zum Schmelzen brachte. Auf dem Rasen spielten ein paar Kinder Ball, ein Pärchen machte einen vergnügten Spaziergang und eine Pflegerin schob einen alten Mann im Rollstuhl. Es herrschte eine allgemeine Grundstimmung von Freude und Heiterkeit. Es war zum Kotzen.

Als Felix an dem Pärchen vorbeikam, lächelten sie ihm freundlich entgegen. Er schaffte es nicht, sich zu einem Lächeln zu zwingen. Stattdessen beschleunigte er seine Schritte. Mies gelaunter Teenager, dachten sie sich bestimmt.

Auf der anderen Seite des Parks setzte er sich auf eine Bank im Halbschatten, wo er auf den Teich mit den Enten starrte.

Düstere Gedanken nahmen ihn so stark ein, dass er beinahe zusammenzuckte, als ihn plötzlich jemand ansprach.

»Ist hier noch frei?«

Vor der Bank stand ein junger Mann. Schwarzes Haar, dunkle Augen, maßgeschneiderter Anzug, großgewachsen, gutaussehend und mit einem freundlichen Lächeln.

Felix schielte zu den unbesetzten Nachbarbänken. »Klar. Setzen Sie sich ruhig.«

Mit sehr eleganten Bewegungen nahm der Mann Platz und legte seine Aktentasche aus schwarzem Leder auf seinen Schoß.

Sie mussten ein seltsames Bild abgeben: ein feiner Herr neben einem Jungen in schlabbrigen Jeans und einem T-Shirt seiner Lieblings-Rockband »Seelenlos«, deren Logo einen Totenkopf enthielt.

»Ein herrlicher Tag, nicht wahr?«

Felix würde sicher nicht das Wetter loben, darum nickte er nur.

Der Mann schaute ihn von der Seite an. »Du wirkst allerdings nicht besonderes heiter.« Dann wanderte sein Blick zu dem Gebäude, aus dem Felix gekommen war, zur Kinderklinik. »Besuchst du jemanden?«

Was auch immer Mama behauptete, Felix bemühte sich fast immer darum, fremden Leuten gegenüber höflich zu sein. Aber er hatte gerade überhaupt keine Lust auf dieses scheinheilige Getue. »Und wenn dem so wäre?«

»Da war ich wohl zu aufdringlich.«

Der Mann holte ein Handy aus seiner Jackentasche hervor, um irgendetwas darauf zu lesen.

Das Schweigen war noch schlimmer. In Felix brodelte es wie in einem Kochtopf und der ganze Druck musste irgendwohin.

»Meinen kleinen Bruder.«

Der Mann blickte auf. »Darf ich fragen, was ihm fehlt?«

»Krebs. Ihm bleiben nur noch Wochen.«

Es war fast eine Erleichterung, die Worte auszusprechen. Als würde er faulige Bissen von einem Apfel ausspucken.

»Das tut mir leid.« Das Mitgefühl in der Miene des Mannes fühlte sich nicht richtig an. Irgendetwas schien dahinter zu lauern.

»Sagen Sie mir jetzt, ich solle tapfer sein? Oder versuchen Sie mir tröstende Bibelverse anzudrehen?«

Manch einen Erwachsenen konnte man so aus der Ruhe bringen, doch der Mann wirkte eher amüsiert.

»Nichts dergleichen. Ich werde dir eine simple Frage stellen: Wenn du ihn retten könntest, würdest du es tun?«

Das war ja wohl der Höhepunkt bescheuerter Fragen. »Natürlich, wer würde das nicht?«

»Selbst, wenn du dafür etwas sehr Wertvolles opfern müsstest?« Der Mann musterte ihn mit durchdringendem Blick. »Deine Seele zum Beispiel?«

Felix schnaubte. »Wer sind Sie? Der Teufel?«

»Würdest du es tun?«

»Hören Sie mal, Herr …«

»Sulpur.«

»Herr Sulpur.« Komischer Name. »Wenn Sie mich verarschen wollen, dann verschwinden Sie besser.«

»Und wenn dem nicht so wäre? Wenn ich dir einen richtigen Handel anzubieten hätte?«

»Meine Seele gegen das Leben meines kleinen Bruders? Der reinste Schwachsinn ist das.«

»Dann hast du ja nichts zu verlieren.«

Herr Sulpur ließ seine Aktentasche aufschnappen, holte einen zusammengetackerten Stapel Zettel daraus hervor und reichte ihn an Felix weiter.

Auf der ersten Seite stand: Vertrag zwischen Felix Schneider …

»Woher kennen Sie meinen Namen?«

»Ich informiere mich immer über die Leute, mit denen ich einen Handel schließen möchte.«

Felix war sich nicht sicher, ob er deswegen verärgert oder verunsichert sein sollte.

Vertrag zwischen Felix Schneider und Schwefel.

»Schwefel?«

»Ja, das ist mein Name.«

»Was für ein Name soll das sein? Ein Künstlername?«

»So etwas in der Art.«

Felix blätterte durch die vielen Seiten. Ganz zu Beginn war der Handel beschrieben. In Kurzform: Felix überschrieb Schwefel sämtliche Rechte an seiner Seele und im Gegenzug sorgte Schwefel dafür, dass Niko wieder gesund wurde. Danach folgten unzählige Bestimmungen darüber, was passierte, wenn eine von beiden Vertragsparteien ihren Teil der Vereinbarung aus den verschiedensten Gründen nicht erfüllte. Wenn Niko zum Beispiel durch eine andere Ursache zu Tode kam, bevor Schwefel seinen Teil der Abmachung umgesetzt hatte, galt dieser trotzdem als erfüllt.

Es dauerte nicht sehr lange, bis Felix des juristischen Textes überdrüssig wurde. Er klappte den Vertrag wieder zusammen und gab ihn Herrn Sulpur – oder Schwefel oder wie auch immer er wirklich hieß – zurück.

»Das war ja ganz unterhaltsam«, sagte er trocken. »Aber ich passe.« Er stand auf.

»Höchst bedauerlich.«

Allerdings wirkte der Mann nicht enttäuscht. Eher so, als hätte er bereits gewonnen.

»Wenn du es dir anders überlegst«, sagte er beinahe beiläufig, »werde ich hier auf dich warten.«

Felix ging nicht darauf ein, verabschiedete sich nicht einmal.


Die gesamte Rückfahrt über herrschte Schweigen. Papa warf ein paar Blicke sowohl zu Mama auf dem Beifahrersitz, als auch über den Rückspiegel zu Felix. Er schien etwas sagen zu wollen, seiner Frau und seinem Sohn Mut zusprechen zu wollen, aber es kam kein Wort über seine Lippen.

Er fuhr in die Garage, sie stiegen aus, Autotüren knallten zu. Papas Schlüsselbund rasselte, als er die Haustür aufschloss. Vor ihnen lag ein leerer Flur.

Mama fand als Erste ihre Stimme wieder: »Wollt ihr etwas essen?«

Papa und Felix wechselten einen Blick. Sie hatten beide nicht wirklich Appetit, nickten aber. Mama ging in die Küche und man hörte das vertraute Scheppern von Töpfen.

Felix verzog sich in sein Zimmer, legte sich mit Kopfhörern aufs Bett und drehte die Musik so laut, dass es in den Ohren schmerzte.

Beim Abendessen stellte Papa ihm belanglose Fragen zur Schule, während sie alle drei mehr auf ihren Tellern herumstocherten, als wirklich zu essen.

Irgendwann wurde es ihm zu dumm und er stand auf.

»Bist du schon fertig?«, fragte Mama.

»Muss noch Hausaufgaben machen«, murmelte er.

Er versuchte es tatsächlich, konnte sich aber nicht konzentrieren. Auf dem Schreibtisch vor ihm lag die unbearbeitete Matheaufgabe, während er sich im Stuhl zurücklehnte und an die Decke starrte.

Würdest du es tun?

Nach einer Weile knipste er die Schreibtischlampe aus und ging ins Bad. Als er dabei an der halb geöffneten Schlafzimmertür seiner Eltern vorbeikam, hörte er gedämpfte Stimmen. Er blieb stehen und lauschte.

Mama und Papa redeten darüber, wie es weitergehen sollte, nachdem … Doch dann brach Mama die Stimme und sie weinte.

Felix eilte weiter. Beim Zähneputzen betrachtete er sein Spiegelbild, schaute sich selbst in die Augen.

Deine Seele zum Beispiel.

Er spuckte aus. Noch kurz aufs Klo, den Flur zurück gehuscht und schon lag er im Bett.

Es war viel zu ruhig, als dass er hätte verhindern können, an Niko zu denken. Ja, klar, wie alle kleinen Geschwister war er manchmal nervig, aber er war auch immer so energiegeladen, so enthusiastisch, so voller Leben. Oder zumindest war er das gewesen. Wenn er doch nur wieder …

Felix schüttelte den Kopf. Er durfte sich nicht zu solchen Gedanken verleiten lassen, denn er würde den Mann im Park ganz sicher nicht gewinnen lassen. Und so suchte er auf seinem Laptop nach dem nächstbesten Video, das ihn ablenken könnte. Was würde passieren, wenn man einen Eisberg in einen aktiven Vulkan wirft? Das klang doch interessant.


Am nächsten Wochenende, bei ihrem Besuch im Krankenhaus, sagte er seinen Eltern, er müsse kurz Luft schnappen. Er fürchtete und hoffte zugleich, den Mann nicht auf der Parkbank vorzufinden, aber er saß dort, als wäre er seit ihrem letzten Treffen nicht aufgestanden.

»Hallo«, sagte er und lächelte dabei, als Felix sich zu ihm setzte. Und dann wartete er, lauernd wie eine Schlange, die jeden Moment zuschnappen könnte.

Felix schwieg. Wind rauschte durch die Blätter über ihnen und die Enten quakten. Es war schon wieder ein so schrecklicher sonniger Tag.

Schließlich holte Felix Luft und sagte: »Ich werde den Vertrag unterschreiben.«

»Sehr schön.«

Herr Sulpur holte den Vertrag hervor und blätterte zur letzten Seite, auf die er bereits seine elegante, schwungvolle Unterschrift gesetzt hatte.

Er reichte Felix die Papiere zusammen mit einem Kugelschreiber.

»Unterschreibt man so etwas normalerweise nicht mit Blut?«

»Kann man machen, muss man aber nicht. Eine schriftliche Willenserklärung genügt.«

Felix klickte den Kugelschreiber und setzte ihn an die Stelle, an die sein Name gehörte. Doch dann ließ er ihn nochmal sinken.

»Aber ich bin gar nicht volljährig?«

Herr Sulpur lächelte. »Versuchst du Zeit zu schinden?«

In dem Schweigen, das folgte, lag ein unausgesprochenes Das wird nichts bringen. Und es stimmte. Sie wussten beide, dass er Felix bereits in der Hand hatte.

Trotzdem sagte er: »Nach den Gesetzen, denen ich folge, ist fünfzehn alt genug.«

Als Felix erneut mit dem Kugelschreiber ansetzte, zögerte er noch ein letztes Mal. Die Spitze des Stifts schwebte über dem Blatt und zitterte leicht.

Wahrscheinlich war das sowieso alles Schwachsinn und der Mann verarschte ihn nur.

Und wenn nicht?

Dann würde Niko leben. Und Felix würde dafür seine Seele verkaufen, was auch immer das genau bedeuten mochte.

Für Niko. Für die geringe Chance, dass er überlebte.

Felix unterschrieb.

Fast befürchtete er, es würde sich eine Pforte zur Hölle auftun und ihn im Ganzen verschlingen. Doch natürlich passierte nichts dergleichen. Stattdessen nahm Herr Sulpur Vertrag und Kugelschreiber wieder an sich, schloss seine Aktentasche und stand auf.

Er setzte ein professionelles Lächeln auf und schüttelte Felix die Hand. »Es war mir eine Freude, mit dir Geschäfte zu machen.«

Und dann ging er und ließ Felix im Sonnenschein auf der Parkbank zurück.


Die nächsten Tage änderte sich rein gar nichts. Nachdem er sie endgültig als Unsinn abgetan hatte, dachte Felix nicht mehr an die Gespräche auf der Parkbank. Er stellte sich schon darauf ein, bald die erste Beerdigung seines Lebens zu besuchen. Doch dann passierte es. Das Wunder.

Niemand konnte es glauben. Mama nicht, Papa nicht und ganz besonders die Ärzte nicht. Über Nacht war Niko geheilt, der Krebs ohne jede Spur verschwunden. Doch der anfängliche Schock ging schnell vorüber und wich tränenreichen Umarmungen.

Felix bemühte sich, an der allgemeinen Freude teilzuhaben, aber er konnte nicht verhindern, dass ein ungutes Gefühl in seinem Bauch rumorte. Wenn dieser Teil des Vertrags erfüllt worden war, war der andere genauso wahr und musste eingehalten werden. Was bedeutete …

Diese Zweifel blieben für lange Zeit bestehen, während er mitansah, wie sein Bruder nach Hause kam, freudestrahlend und voller Energie wie eh und je, und alle zu ihrem Alltag zurückkehrten. Es dauerte ein halbes Jahr, bis er die Zweifel vergaß.


Etwa ein Jahr nach Nikos Wunderheilung wollten Mama und Papa mit ihm eine Reise quer durch Europa machen.

Papa lud gerade das Gepäck ins Auto, als Mama fragte: »Und du willst wirklich nicht mitkommen?«

Schon zum hundertsten Mal verneinte Felix.

»Na gut. Ich habe dir Geld zum Einkaufen neben das Telefon gelegt. Aber das ist nur für Lebensmittel gedacht. Wenn du Wäsche waschen willst …« Sie war nicht zu bremsen. Sie ratterte eine ganze Liste von Dingen, die ihr im letzten Moment einzufallen schienen, herunter. Dabei wusste er das alles schon längst.

»Mama«, unterbrach er sie nach einer Weile, »ich kriege das schon hin.«

Sie schaute ihn so erstaunt an, als hätte sie vergessen, dass ihr Sohn schon sechzehn war. »Wenn etwas ist, kannst du jederzeit anrufen.«

Zum Abschied wurden Umarmungen ausgetauscht.

»Viel Spaß«, sagte Felix.

Niko grinste. »Ich erzähle dir später alles und bringe dir ganz viele Dinge mit.«

Felix winkte, während das Auto wegfuhr. Als er die Tür schloss, herrschte absolute Stille im Haus.

»Yes!«, rief er mitten hinein.

Zwei Wochen hatte er es für sich allein, ohne dass ihn jemand herumkommandierte oder auf die Nerven ging. Er konnte tun und lassen, was er wollte.

Es war erst sieben Uhr, darum begann er damit, sich ins Bett zu legen und bis zum Mittag auszuschlafen. Niemand weckte ihn. Niemand sagte, er solle langsam mal aufstehen. Dann fuhr er mit dem Fahrrad zum Supermarkt und kaufte alles, worauf er Lust hatte: Eis, Fertigpizza, Softdrinks, … das ganze ungesunde Zeug.

Den Nachmittag über spielte er Videospiele und am Abend drehte er im Wohnzimmer die Musik auf, während die Pizza im Ofen brutzelte. Er aß sie auf dem Sofa bei einem FSK18-Horrorfilm, der mehr blutig als wirklich gruselig war. Fast schon langweilig.

Trotzdem schreckte er später hoch. Er war auf dem Sofa eingeschlafen, der Film lief noch – es wurde gerade eine Frau auf brutalste Weise zerfleischt – und es klingelte an der Tür.

Felix schaute auf die Uhr. Es war schon nach Mitternacht. Wer klingelte so spät noch? Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und die Pizza-Krümmel vom T-Shirt, und tapste zur Haustür. Er öffnete sie. Erstarrte.

Davor stand der Mann von der Parkbank, Schwefel, und lächelte. »Hallo, Felix.«

Der bekam kein Wort heraus.

»Du scheinst dich an mich zu erinnern. Sehr schön, denn ich bin hier, um mir zu holen, was mir zusteht.«

Felix wich ein paar Schritte zurück. Er musste an Geschichten über Vampire denken, die eingeladen werden mussten, um ein Haus betreten zu können. Doch er wusste, dass das nicht funktionieren würde. Schwefel brauchte keine Einladung, um über die Schwelle zu treten. Und selbst wenn er eine gebraucht hätte, hatte Felix längst das Böse zu sich nach Hause eingeladen.

Während er weiter zurückwich – ins Wohnzimmer –, folgte ihm der vornehm gekleidete Mann, der noch immer freundlich lächelte. Aber dessen Harmlosigkeit war nur äußerer Schein. Das Flackern des Fernsehers warf seinen Schatten an die Wände. Riesig und mit Hörnern und einem Schweif. Die Musik setzte zu einem Crescendo an. Eine Frau kreischte …

Da hielt der Dämon inne.

»Okay, Schluss mit dem Unsinn. Bleib doch mal stehen.«

Und Felix blieb stehen. Er konnte sich nicht mehr rühren.

Schwefel nahm die Fernbedienung, um den Fernseher auszuschalten, und warf sie anschließend zurück aufs Sofa.

»Leer deine Taschen und komm mit.« Er wandte sich um und verließ das Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen.

In Felix herrschte der unüberwindbare Drang, zu gehorchen. Er wusste, er konnte sich nicht widersetzen. Und so holte er Handy und Schlüssel aus seinen Hosentaschen, ließ sie neben dem Telefon zurück und folgte Schwefel nach draußen. Der lehnte an einem schicken, schwarzen Auto, das am Straßenrand parkte. Im absoluten Halteverbot.

»Die Tür.«

Felix zog die Haustür hinter sich zu und sperrte sich damit aus. Dann lief er wahrscheinlich zum letzten Mal durch den Vorgarten.

Schwefel hielt ihm die Beifahrertür auf. »Steig ein.«

Sobald Felix saß, schlug er die Tür zu und nahm selbst auf den Fahrersitz Platz. Ohne sich anzuschnallen, fuhr er so rasant los, dass Felix sich beeilte, den Gurt anzulegen.

Nach ein paar Straßen war Felix sich sicher, dass das Auto auf die Autobahn zuhielt und dem war auch so. Die Spuren waren beinahe leer, die LKWs hatten sich längst auf die Parkplätze zurückgezogen.

Während die Nacht an ihnen vorbeirauschte, wanderten Felix’ Augen immer wieder zu dem Dämon, der völlig entspannt neben ihm saß. Zu entspannt und viel zu nah. Freute er sich schon auf das Festmahl, das Felix’ Seele für ihn darstellte? Oder was stellten Dämonen sonst mit Seelen an? Felix konnte nicht verhindern, dass seine Gedanken verrückt spielten und sich die schlimmsten Dinge ausmalten.

Gerade als seine Angst so groß wurde, dass er einfach danach fragen musste, sagte Schwefel: »Meinst du, McDonald’s hat um die Zeit noch auf?«

Das brachte Felix völlig aus dem Konzept, darum gab er eine seiner Standardantworten: »Keine Ahnung.«

Schwefel fuhr an der nächsten Raststätte raus und in den Drive-in. Er bestellte und drehte sich dann zu Felix um. »Willst du auch was?«

Felix schüttelte den Kopf. Verständlicherweise hatte die Gesamtsituation ihm den Appetit verschlagen.

Dann ging es weiter. Schwefel futterte beim Fahren abwechselnd Pommes und schlürfte sein Getränk. Anschließend schaltete er das Radio an und sang ein paar der Lieder mit.

Normalerweise schlief Felix auf langen Autofahrten immer ein, aber jetzt war natürlich überhaupt nicht daran zu denken. Das Bedürfnis, Schwefel nach seinen Absichten zu fragen, war immer noch da, aber Felix fand einfach nicht den richtigen Zeitpunkt. Jedes Mal, wenn er kurz davor stand, den Mund aufzumachen, verließ ihn der Mut. Seine Zukunft sah ganz sicher düster aus.

Nach etwa drei Stunden fuhr Schwefel an der Ausfahrt zu einer kleinen, unbekannten Stadt von der Autobahn und folgte kurz einer Landstraße. Bevor sie die Ortschaft erreichten, bog er auf einen unasphaltierten Waldweg ab. Die Autoscheinwerfer glitten über schwarzen Bäume, die auf beiden Seiten aufragten, bildeten eine winzige Insel des Lichts in einem stockdunklen Meer.

Ein einsames Auto nachts im Wald, das war der perfekte Anfang für einen Horrorfilm. Ob ein Dämon am Steuer dabei wenigstens die Monster, die draußen in der Dunkelheit lauerten, fernhielt?

Vor ihnen tauchte ein Gebäude auf, das viel zu gut in die Horrorfilm-Thematik passte. Eine alte Villa, die ihre besten Tage schon lange hinter sich hatte, umgeben von einem schwarzen Zaun, an dem der Lack stellenweise abblätterte.

Als das Auto sich dem Tor näherte, schwang dieses ganz von allein auf. Eine Lichtschranke, redete Felix sich ein, auch wenn das Tor nicht wirkte, als besäße es so etwas.

Schwefel parkte das Auto in einer kleinen Garage. Sie war genauso heruntergekommen wie das gesamte Gebäude und das schicke Auto wirkte darin völlig fehl am Platz.

Sobald die Scheinwerfer erloschen, wurde es so dunkel, dass Felix genauso gut hätte blind sein können. Er hörte, wie Schwefel ausstieg. Er selbst tastete nach dem Türgriff, stieg ebenfalls aus und hangelte sich an Auto und Garagenwand durch die Dunkelheit.

»Ach, richtig, das habe ich ganz vergessen. Du kannst im Dunkeln gar nicht sehen.« Schwefel erhob die Stimme: »Wärst du so gut, das Licht anzumachen, meine Liebe?«

An der Fassade leuchtete eine Spur aus Lichtern auf, die den Weg zur Haustür wiesen.

Schwefel lief voran und Felix folgte, denn er wusste, jede Flucht wäre zwecklos.

Die beiden Flügel der Eingangstür quietschten, als Schwefel sie aufschwang. Im Innern erhellte ein Kronleuchter die geräumige Eingangshalle, von der T-förmig zwei Gänge abzweigten. Rote Teppiche, rote, holzverkleidete Wände, früher musste das sehr prachtvoll ausgesehen haben. Jetzt waren die Teppiche abgenutzt und von den Wänden blätterte die Farbe ab. An der hinteren Wand gab es eine weitere zweiflügelige Tür, an deren beiden Seiten je eine Treppe in den ersten Stock führte.

»Ich bin wieder da«, rief Schwefel in die Stille.

»Willkommen zurück.« Eine tiefe Stimme heulte wie der Wind durch die Flure und ächzte in den alten Balken.

Felix blieb erschrocken stehen, was Schwefel mit einem Lächeln bedachte.

»Ihr Menschen seid so furchtsam.«

»Was …?«

»Die ehemalige Besitzerin ist auf gewaltsame Weise zu Tode gekommen und seitdem sucht sie diese Villa heim. Völlig harmlos, aber kein Mensch will in so einem Haus leben. Es war wirklich ein Schnäppchen.«

»Hallo, Felix«, heulte die Villa, »es ist schön, dich kennenzulernen.«

»Hallo, ähm … Frau Villa?«

»Nenn mich ruhig Luise.«

»Gut, genug geplaudert«, sagte Schwefel. »Kommen wir zum nervigen Teil.«

Er öffnete die Flügeltür und sie betraten ein Wohnzimmer, eigentlich einen Salon, mit Kamin, Sofas, Holzregalen. An der Außenwand schloss ein Wintergarten an. Im Prinzip ein sehr schönes Zimmer, wäre es nicht vollkommen zugemüllt gewesen. Überall lagen Flaschen und Dosen der verschiedensten alkoholischen und nicht-alkoholischen Getränke, leere Chipstüten, Erdnussdosen, Süßigkeitenverpackungen …

Elegant wie eine Katze schlich Schwefel durch die Unordnung und nahm in einem Ledersessel Platz.

Er deutete auf eines der Sofas. »Mach dir einen Fleck frei und setz dich.«

Felix bahnte sich einen Weg zum Sofa, schob einen Pizzakarton beiseite und setzte sich.

Schwefel holte Luft. »Also. Wenn …« Er hielt inne und schüttelte den Kopf. »Nee, ich habe gerade überhaupt keine Lust auf lange Erklärungen. Machen wir das kurz. Du bist ab sofort mein Diener und wirst dieses Haus in Ordnung halten.« Er deutete in einer unspezifischen Geste auf das Chaos. »Du wirst mich mit ›Herr‹ ansprechen und das Grundstück nur mit meiner ausdrücklichen Genehmigung verlassen.« Er lächelte. »Alles klar?«

Obwohl Schwefel so lässig sprach, spürte Felix das Gewicht der Worte. Wie seine Seele ihrem neuen Besitzer gehorchte und der Rest von ihm folgte.

»Ja, Herr.«

»Sehr schön.«

Schwefel wollte gerade aufstehen. »Moment, da war noch was. Das ist jetzt weniger ein Befehl, sondern mehr ein gut gemeinter Rat. Halt dich besser vom Keller fern. Da hat sich ein Monster eingenistet.«

Er sagte das so, als rede er von lästigem Ungeziefer, aber die Warnung bereitete Felix Magengrummeln. Zumindest war es keine Todesangst mehr, die schien er heute schon aufgebraucht zu haben.

Schwefel stand auf. »Der zweite Stock gehört mir, aber im ersten kannst du dir ein beliebiges Zimmer aussuchen. Gute Nacht.« Damit verschwand er durch die Tür.

Zum ersten Mal, seit sein Leben komplett über den Haufen geworfen worden war, war Felix allein. Sein Magen zog sich zusammen und er zitterte am ganzen Körper.

»Kann ich dir irgendwie helfen?« Gut, vielleicht nicht ganz allein. Dass in dem Heulen einer heimgesuchten Villa so viel mütterliche Fürsorge liegen konnte.

Er riss sich zusammen. »Geht schon.«

»Versuch zu schlafen. Morgen sieht die Welt schon ganz anders aus.«

»Vielleicht.«

Felix sehnte sich nach einem Bett. Allerdings bezweifelte er, dass er überhaupt einschlafen konnte. Und die Welt würde am nächsten Tag sicher auch nicht besser aussehen. Trotzdem schob er allen Müll vom Sofa, um sich hinlegen zu können. Zum Erkunden des Hauses fehlte ihm im Moment der Mut.

Er schloss die Augen, obwohl an Schlaf nicht zu denken war. Sein Herz schlug unruhig. Die alten Balken knarzten und stöhnten. Und …

»Ähm, Luise? … Dieses Monster im Keller …«

»Mach dir mal keine Sorgen. Es kann da nicht heraus.«

Er lag zwar noch lange wach, aber irgendwann schlief er doch ein, inmitten des Chaos, das ihn am nächsten Tag erwarten würde.