Sophie Liebhardt - Der Haushalt eines Dämons
Kapitel 4: Monströse Albträume und funkelnde Feiern
Felix rannte durch seichtes Wasser, in dem es überall wuselte. Blutegel, die näher schwammen, um ihre Zähne in seine Beine zu schlagen. Schlimmer noch: Zombie-Blutegel. Er wusste ganz genau: Wenn sie ihn erwischten, würde er auch zum Zombie werden.
Darum rannte er, so schnell er konnte, während sein Herz im Takt mit seinen Schritten schlug: Plitsch. Poch. Poch. Platsch. Poch. Poch.
Es gelang ihm gerade so, die Viecher auf Abstand zu halten.
Bis er stolperte. Er fiel hin, fing sich mit den Händen ab, versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Zu spät.
Doch bevor die scharfen Zähne ihn erreichten, wachte er auf.
Die Erleichterung, in seinem Bett zu liegen, konnte sich gar nicht erst entfalten. Sein Herz stockte. Der Horror war noch nicht vorbei. Ihn überragte etwas von undefinierbarer Form. Eine schwarze Masse, die unaufhörlich summte wie ein wütender Bienenschwarm.
Es streckte seine Finger – nein, eher Tentakel – nach ihm aus.
Ihm entfuhr der panischen Schrei, den der Traum in seine Kehle gelegt hatte.
Doch sobald sich ein Tentakel um sein Handgelenk schlang und das Ding ein schlürfendes Geräusch von sich gab – wie ein Strohhalm, der am Grund eines Getränks angekommen war –, ließ die Angst nach. Umso lauter es schlürfte, umso schneller verschwand sie. Schließlich ließ es wieder los und gab ein zufriedenes Schmatzen von sich.
Und dann blieb es einfach sitzen. Mitten auf der Bettdecke. Felix konnte keine Augen sehen, aber er hatte das Gefühl, dass es ihn neugierig musterte.
Nach ein paar Sekunden schien es das Interesse zu verlieren und kroch davon.
Felix fühlte sich sehr seltsam. Er wusste, er müsste nach einem Albtraum, und was auch immer danach passiert war, eigentlich aufgerüttelt sein, voller Panik. Stattdessen fühlte er sich so ruhig wie schon seit Jahren nicht mehr. Er wälzte sich nicht ewig im Bett herum, sondern schlief einfach wieder ein.
Direkt nach dem Aufwachen überprüfte er die Kellertür. Sie stand sperrangelweit offen, wies aber keine Spuren von Gewalt auf. Vielleicht hatte das Vieh einen Tentakel unter der Tür durchgequetscht, um den Schlüssel umzudrehen. Felix schloss wieder ab und vernagelte die Tür mit mehreren Holzbrettern.
Als Schwefel am Abend in die Küche kam, um den Kühlschrank zu durchstöbern, sagte Felix: »Ich wurde heute Nacht von einem Monster angefallen.« Anders konnte er es nicht ausdrücken.
Er wartete, aber Schwefel reagierte nicht, darum fügte er hinzu: »Das aus dem Keller.«
Schwefel warf ihm einen flüchtigen Blick zu. »Ich weiß.«
Zwei unschuldige Worte, die den gleichen Effekt wie Zunder hatten.
»Wie, Ihr wisst das?«
»Hast ja laut genug geschrien.«
Schwefel entschied sich für den Milchkarton, nahm einen Schluck daraus und stellte ihn wieder zurück.
»Ihr hättet also zugelassen, dass es mich frisst?«
»Dich frisst?« Der Dämon schmunzelte. »Ein Mahr?«
Diese ständige Unbekümmertheit ging Felix langsam auf den Sack. »Woher soll ich wissen, was das ist?«
»Mahre ernähren sich ausschließlich von Angst. Sie sind völlig harmlos.«
»Ach wirklich? Und wieso habt Ihr mich dann davor gewarnt?
»Damit es im Keller bleibt.«
Langsam klang Schwefel genervt und eine leise, aber sehr vernünftige Stimme meldete sich, dass Felix vielleicht lieber einen Gang herunterschaltete. Doch dafür war er viel zu sehr in Fahrt.
»Wozu, wenn es doch so harmlos ist?«
»Weil ich es nicht brauchen kann, dass dieses Gegenteil von einem Wachhund durchs gesamte Haus streift. Angst hält Eindringlinge fern, wofür diese Villa eigentlich perfekt wäre.«
Schwefel hielt inne, schien über irgendetwas nachzudenken.
In der kurzen Pause, die dadurch entstand, gelang es Felix, Luft zu holen, um zur Abwechslung eine hilfreichere Frage zu stellen.
»Wie wird man einen Mahr denn los?«
»Gar nicht.« Schwefel wandte sich wieder dem Inhalt des Kühlschranks zu. »Nicht mal aushungern kann man die Biester. Sie können Jahrhunderte ohne Nahrung überleben.«
»Und was machen wir dann?«
»Sorg einfach dafür, dass es nicht aus dem Keller kann.«
Wie zur Verdeutlichung drückte er die Kühlschranktür zu und verzog sich mit dem letzten Schokopudding, den Felix sich extra aufgehoben hatte, nach oben.
Nachdem Felix den Kohlekeller mit einem Vorhängeschloss gesichert hatte, was den Mahr hoffentlich darin festhielt, wagte er es ein paar Tage später, die restlichen Kellerräume zu erkunden. Zum Glück tat das elektrische Licht. Nur mit einer Taschenlampe wäre es viel unheimlicher gewesen.
Die Räume glichen einem Museum. Überall standen alte Möbel, Kuckucksuhren, Spielsachen, … Nur der Staub passte nicht ins Bild, und dass keine durchdachte Anordnung hinter allem lag.
Ihn gruselte es, als er an den hunderten Augen einer Puppensammlung vorbeilief. Sie wirkten beinahe lebendig, waren so detailliert und gut erhalten. Besonders die Miniatur-Kleider.
Überhaupt befanden sich alle ›Ausstellungsstücke‹ in sehr gutem Zustand. Sie riefen einem regelrecht zu, dass sie geliebt worden waren.
In einem Regal funkelte es. Er ging näher heran, um die kunstvolle Spieluhr besser betrachten zu können. Sie war mit Edelsteinen verziert. Er streckte die Hand aus, um sie hochzuheben …
»Felix?«
Er stieß sich den Kopf am Regal und fluchte.
»Was treibst du hier unten?«
Genau diese Frage hätte er gerne Schwefel gestellt. Zumal noch helllichter Tag war.
Stattdessen sagte er: »Nichts besonderes«, während er sich umdrehte, eine Hand auf den pochenden Schmerz gedrückt.
»Ist ja auch egal. Komm mal mit hoch.«
Während Schwefel sich bereits auf den Weg nach oben machte, blieb Felix noch einen Moment stehen. Holte einmal tief Luft. Wischte sich die Spinnweben aus dem Gesicht. Dann folgte er dem Dämon.
Er musste sich beeilen, um Schwefel nicht aus den Augen zu verlieren. Felix erreichte gerade den ersten Stock, als Schwefel in seinem Zimmer verschwand. Wo er nichts zu suchen hatte. Selbst wenn es sein Haus war und alles darin sein Besitz, konnte er Felix ja wohl wenigstens das bisschen Freiraum lassen.
Doch es wurde noch schlimmer: Als Felix ihn einholte, inspizierte Schwefel bereits den Kleiderschrank, in dem längst keine alte, mottenzerfressene Kleidung mehr hing. Die hatte Felix weggeschmissen, um Platz für seine eigene zu machen.
»Nein, nein, nein, nein, nein, …«, ging Schwefel die Kleidungsstücke durch. Als er am Ende angekommen war, sagte er: »Hast du wirklich nichts Besseres?« Er musterte Felix mit abschätzigem Blick. »… als das?«
Felix trug eine der Latzhosen, die er eigentlich nie hatte tragen wollen. Doch dann war ihm die Wäsche ausgegangen und bis er Waschmittel besorgt hatte, war ihm nichts anderes übrig geblieben. Schließlich hatte sich das allerdings als Glücksfall herausgestellt, denn ihm war aufgefallen, wie praktisch die vielen Taschen waren. Seitdem trug er sie fast ausschließlich.
Er klopfte die Spinnweben und den Staub ab. »Bisher hat Euch das nie gestört.«
»Das ist nicht das Richtige für eine Feier.«
»Wir gehen auf eine Feier?«
Schwefel ignorierte die Frage. »Hilft alles nichts, wir werden etwas besorgen müssen.«
Eine Viertelstunde später saßen sie im Auto. Schwefel hatte sich umgezogen. Während er daheim legere Pullis oder T-Shirts trug, hatte er unterwegs immer einen Anzug an.
Nach einer einstündigen Fahrt hielt Schwefel am Straßenrand vor einem Schneider. Dass so etwas in Zeiten der billigen Massenproduktion überhaupt noch existierte. Über der Tür klingelte sogar ein Glöckchen, als sie in das warme Licht des Geschäfts traten.
Hinter der Kasse stand ein Mann, der sich gerade etwas notierte.
»Herzlich willkommen. Was kann ich für Sie tun?«
Er blickte auf, die freudestrahlende Höflichkeit in Person, aber als er Schwefel erblickte, erstarrte seine Miene.
»Herr Sulpur.«
»Ich möchte einen Anzug anfertigen lassen.« Schwefels Blick wanderte zu Felix. »Für meinen Neffen.«
Es war nur eine winzige Notlüge, die Felix trotzdem aufrüttelte. Bisher hatte er nie das Gefühl gehabt, dass Schwefel log. Selbst als sie den Vertrag geschlossen hatten, war er zwar ausweichend, aber ehrlich gewesen. Wenn er jetzt allerdings so selbstverständlich lügen konnte, hatte Felix sich vielleicht getäuscht.
Der Schneider zwang sich zu einem Lächeln. »Natürlich.«
Er deutete in die Raummitte. »Bitte, junger Mann, stellen Sie sich hier hin.«
Während er von Felix Maß nahm, waren seine Bewegungen schnell, aber präzise, was auf sein berufliches Geschick und seine Erfahrung hindeutete. Und darauf, dass er Schwefel so schnell wie möglich wieder loswerden wollte. Immer, wenn er die Zahlen in einem kleinen Büchlein notierte, warf er dem Dämon, der wie ein Kind im Spielzeugladen alles in Augenschein nahm, einen unruhigen Blick zu.
Als der Mann fertig war, sagte er: »Gut, mal sehen. Ich habe gerade viele Aufträge, das wird eine Weile dauern. Sagen wir …«
»… eine Woche?« Schwefel lächelte zwar, ließ aber keinen Zweifel daran, dass man ihm besser nicht widersprach.
»Wie Sie wünschen.«
Während sie den Laden verließen, warf Felix noch einen Blick zurück. Der Schneider wirkte sehr erleichtert darüber, seiner misslichen Lage zu entkommen.
Im Auto angekommen, frage Felix – mehr aus Neugier als vorwurfsvoll: »Was habt Ihr diesem armen Mann angetan?«
Schwefel konzentrierte sich auf das Einstellen der Klimaanlage. »Nichts.«
»Er hat aber riesige Angst vor Euch.«
»Ich habe nur einen Handel mit ihm geschlossen und ihm seinen sehnlichsten Wunsch erfüllt.«
»Im Austausch für seine Seele?«
Kurz glitt Schwefels Blick zu Felix.
»Nein, nur für seine Dienste als Schneider.« Der Glückliche.
Dabei hätte Felix es belassen können, aber nach eine Weile des Schweigens stellte er doch die Frage, die ihm auf der Zunge brannte: »Was war sein sehnlichster Wunsch?«
»Dass seine Konkurrenz ausgeschaltet wird.«
Die Feier fand eineinhalb Wochen später statt. Was Felix erst am selben Abend, kurz bevor sie aufbrachen, erfuhr. Der schwarze Anzug hing ungetragen im Schrank, er hatte ihn nicht einmal anprobiert. Wozu auch, er war ja maßgeschneidert.
Und tatsächlich, als Felix ihn jetzt überstreifte, passte er wie angegossen. Und gleichzeitig überhaupt nicht. Er fühlte sich wie eine billige Kopie, wie ein Schauspieler, der seine Rolle nicht füllen konnte. Die schwarzen Schuhe drückten, waren noch nicht eingelaufen. Außerdem hatte er keine Ahnung, wie man eine Krawatte band.
Felix seufzte.
Wenn er gekonnt hätte, hätte er sich ein Tutorial-Video gesucht, in dem jemand zeigte, wie es ging. Doch Schwefel erlaubte ihm weder PC noch Smartphone. Dieser neumodische Schnickschnack sei nur hedonistische Zeitverschwendung. »Lies lieber ein Buch.« Dabei surfte er selbst ständig auf seinem Handy.
Nach gut zehn missglückten Versuchen gab Felix es auf. So ziemlich alles in ihm sträubte sich, Schwefel um Hilfe zu bitten, aber schließlich blieb ihm nichts anderes übrig. Demütig kam er angekrochen.
»Könnt Ihr mir zeigen, wie man eine Krawatte bindet?«
Nachdem Schwefel sich hinreichend darüber lustig gemacht hatte, dass die Jugend von heute nicht mal die grundlegendsten Fähigkeiten beherrsche, erklärte er es gar nicht mal so schlecht. Gut genug, dass Felix es sich für die Zukunft würde merken können. Nochmal nachfragen würde er nämlich ganz bestimmt nicht.
Als Schwefel eine halbe Stunde später auf einem Waldparkplatz hielt, war Felix sehr verwirrt. Die Straße, Wanderwege und Bäume, mehr schien es hier nicht zu geben und erst recht keine Feier.
Doch der Dämon schlug zielstrebig einen der Wanderwege ein. Felix folgte dichtauf, da er in der Dunkelheit kaum etwas erkennen konnte. Innerhalb der nächsten Minuten stolperte er dreimal.
»Herr?«
»Ja?«
»Seid Ihr Euch sicher, dass diese Feier hier stattfindet?«
»Natürlich bin ich mir sicher.«
Kurzes Schweigen.
»Ich sehe aber keine Feier.«
»Geduld.«
Geschätzte fünf Minuten später verließ Schwefel zu allem Überfluss auch noch den Weg und lief mitten in den Wald hinein. Jetzt zweifelte Felix noch mehr an diesem gesamten Unterfangen und musste höllisch aufpassen, nirgendwo hängen zu bleiben und der Länge nach hinzufallen. Den Blick auf den Boden gerichtet, lief er in Schwefel hinein, welcher plötzlich stehen geblieben war.
»Pass auf, wo du hinläufst!«
»Ich sehe nichts!«
Schwefel machte eine ausladende Geste. »Wir sind da.«
»Da wo?«
Felix blickte sich um, starrte mit zusammengekniffenen, dann aufgerissenen Augen in die Dunkelheit. Schließlich bemerkte er die Pilze, die einen viel zu gleichförmigen Kreis bildeten.
»Schließ die Augen«, forderte Schwefel ihn auf.
Der Instinkt, mit einem Dämon in einem finsteren Wald die Augen besser weit offen zu lassen, war stark genug, um sich dem Befehl für einen Moment zu widersetzen.
»Wieso?«
»Mach einfach!«
Länger hielt er nicht durch und schloss die Augen.
»Reicht schon«, sagte Schwefel eine Sekunde später.
Als Felix die Augen wieder öffnete, stand vor ihm ein hell erleuchtetes Schloss, das nur aus einem Märchen stammen konnte. Geschwungene Türme, eine Treppe, die zu einem weiten Tor hinaufführte. Alles war von grünen Ranken überwachsen, welche sich um die Türme wanden und die bunten Glasfenster mit ihren spiralförmigen Spitzen schmückten.
»Bleib in meiner Nähe«, sagte Schwefel. »Ich will dich später nicht suchen müssen.«
Schon setzte er sich in Bewegung, sodass Felix sich von dem Anblick losreißen musste.
Während sie die Treppe hinaufstiegen, öffneten die Ranken ihnen das Tor.
Im Innern fand eine riesige Party statt. In einer großen Halle feierten auf mehreren Ebenen mindestens hundert Leute. Ganz unten wurde um einen Springbrunnen zu lauter, moderner – keine klassische oder sonst irgendwie alte – Musik getanzt. Ganz oben an der Decke hing ein Kronleuchter, so groß wie ein Boot. Überall gab es Stehtische, zwischen denen Kellner mit Tabletten voller Gläser und Häppchen umherliefen. Erst auf den zweiten Blick erkannte Felix, dass die meisten der Leute lange, spitze Ohren hatten. Und sie wirkten alle so jung, hatten makellose Gesichtszüge.
»Elfen.«
»Feen«, korrigierte Schwefel ihn.
Ein Kellner kam auf sie zu. »Sekt?«
Allem Anschein nach handelte es sich um einen Menschen. Er fing Felix’ Blick auf und schüttelte so unauffällig den Kopf, dass man es leicht hätte übersehen können.
An Schwefel ging es völlig vorbei. Der nahm sich ein Glas und sah sich nach irgendetwas um.
Als Felix „nein, danke“ murmelte, wirkte der Kellner erleichtert und ging weiter.
Kurz schaute Felix ihm hinterher, dann schloss er zu seinem Herrn auf, der sich zu zwei Damen in Laub-farbenen Kleidern gesellt hatte.
»Das ist eine wirklich bezaubernde Kette«, schnurrte Schwefel. »Ein Erbstück?« Dazu schenkte er der Dame ein verführerisches Lächeln, welches sie erwiderte.
Felix achtete nicht auf ihre Antwort, sondern grübelte über die Interaktion mit dem Kellner nach, bis ihm etwas einfiel. Irgendwo – vielleicht in einem Film oder einem Buch – hatte er schonmal gehört, dass man nichts essen oder trinken durfte, wenn man bei Feen zu Besuch war. Sonst konnte man nicht mehr gehen, wurde zu ihrem Gefangenen. Was sicher bedeutete …
Er suchte die Menge nach dem Kellner ab und eine Welle des Mitgefühls überkam ihn. Einem übernatürlichen Jäger ins Netz zu gehen, ihm gegen seinen Willen dienen zu müssen, war einfach das Letzte.
Sein Blick wanderte zu Schwefel, der unbekümmert an seinem Sekt nippte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Dämon nicht Bescheid wusste. Allerdings war er kein Mensch.
Schwefel zog weiter von Tisch zu Tisch und flirtete mit allem, was Beine hatte, völlig egal ob Mann oder Frau. Was das Ganze sollte, blieb unklar, denn jedes Mal verlor er bereits nach wenigen Sätzen das Interesse. Reiner Zeitvertreib?
Felix durfte ihm die ganze Zeit hinterherdackeln und sich langweilen. Und damit nicht genug: Obwohl er nach einer Weile Hunger bekam, wagte er es nicht, etwas von den hübschen, herrlich duftenden Speisen anzurühren.
Sobald Schwefel das Erdgeschoss abgegrast hatte, stieg er zu einer der Emporen hinauf. Hier gab es gepolsterte Sitzecken, die man mit Vorhängen vor neugierigen Blicken schützen konnte. Ab und zu verschwand ein Pärchen Hand in Hand dahinter, aber in ein paar Ecken wurde ganz offen geknutscht.
Doch das bekam Felix nur am Rande mit. Er musste sich am Geländer abstützen, sich zusammenreißen, um nicht auf die Tanzenden unter ihm zu kotzen. Ihm war richtig übel. Sein Magen verlangte so stark nach Essen, dass es wehtat. Der köstliche Duft, der schwer in der Luft lag, brachte ihn fast um den Verstand.
»Felix? Wo bleibst du denn?«
Er schaffte es nicht, Schwefel anzublicken. »Mir ist schlecht.«
»Hast du zu viel gegessen?«
»Nein. Ich habe gar nichts gegessen.«
»Dann solltest du das tun.«
Schwefel schnappte sich von irgendwoher einen Cupcake und hielt ihn Felix hin. »Hier.«
Das machte es noch viel schwerer, der Verlockung zu widerstehen. Ob Schwefel bewusst war, dass er damit genau den Stereotyp eines Dämons erfüllte, Menschen zu schädlichen Handlungen zu verleiten?
»Aber das darf ich doch gar nicht.«
»Sagt wer?«
»Bei Feen darf man nichts essen, sonst kann man nicht mehr gehen.«
»Ach, das.« Schwefel winkte ab.
»Oder ist das ein Mythos?«
»Nein, das stimmt schon. Aber nicht für dich.«
Jetzt blickte er doch auf. »Was, wieso?«
»Felix«, sagte Schwefel wie ein Lehrer, der schon zum zehnten Mal versuchte, seinem Schüler etwas zu erklären, »alles, was sie dir rauben könnten, gehört bereits mir. Und sie würden es nicht wagen, mich zu bestehlen.«
Im ersten Moment war Felix darüber so verblüfft, dass er sich nicht einmal darüber ärgerte, dass Schwefel ihn als Besitz betrachtete. Aber es ergab Sinn: Man besaß nur eine Seele, die man verlieren konnte. Wie praktisch.
»Also hätte ich die ganze Zeit …«
»Ja, hättest du.«
Felix nahm den Cupcake und knabberte zögerlich daran. Dann aß er den Rest in wenigen Bissen. Es schmeckte himmlisch. Und es ging ihm sofort besser.
Viel Zeit blieb ihm allerdings nicht, um all die Leckereien zu probieren. Bereits drei lächelnde Gesichter später schien Schwefel zu finden, was er gesucht hatte.
Den Anfang des Gesprächs hatte Felix nicht mitbekommen. Er hatte sich lieber auf das Verzehren eines niedlichen Mini-Burgers konzentriert. Doch bei dem Wort »Drachen« wurde er hellhörig.
»Ja, ich kenne einen Züchter in England«, sagte der Feenmann gerade. »Erst letzten Monat war ich dort und habe ein paar Eier mitgebracht.« Verschwörerisch rückte er näher und senkte die Stimme. »Wollen Sie sie sehen?«
»Liebend gerne.«
Der Mann nickte und führte sie durch eine Tür, von der Felix hätte schwören können, dass sie vorher noch nicht da gewesen war. Sie liefen durch leere Gänge, die Party-Geräusche wurden immer leiser. Schließlich betraten sie einen Raum, in dessen Mitte ein Bottich aus Metall stand. Darin lagen fünf schwarze Eier, so groß wie Basketbälle, auf einem Bett aus Asche.
Schwefel wirkte zufrieden. »Würden Sie mir eines verkaufen?«
»Für den richtigen Preis. Aber Sie sollten wissen, dass Dracheneier sehr wertvoll sind. Die meisten können sich das nicht leisten.« Was für ein Angeber.
»Wie gut, dass ich nicht die meisten bin.« Und gleich noch einer.
Schwefel holte eine winzige Phiole aus einer Tasche seines Anzugs. Darin schimmerte eine goldene Flüssigkeit.
Der Feenmann machte große Augen, nahm die Phiole entgegen, entkorkte sie und roch daran. Seine Augen wurden noch größer und er schloss den Korken hastig wieder.
»Tatsächlich. Tränen des Lebensbaums.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist viel zu viel für ein Ei. Wollen Sie zwei haben, drei?«
»Ich brauche nur das eine.« Schwefel lächelte charmant. »Der Rest ist für Sie.«
Glücklicherweise war die ganze Schleimerei damit endlich vorbei.
Felix durfte das Drachenei zum Auto tragen. Es war schwer, strahlte aber eine wohlige Wärme ab. Im Auto nahm er es auf den Schoß und kämpfte für einen Moment mit dem Gurt.
Sobald Schwefel losfuhr, sagte er: »Ein Drache?«
»Sie sollen eins a Wachtiere abgeben. Wenn man sie erstmal trainiert hat.«
Bei diesen Worten bahnte sich schon eine düstere Vorahnung an.
»Habt Ihr Erfahrung mit Drachen?«
»Nicht wirklich.«
Felix graute davor, weiter nachzuhaken, aber am Ende brachte es nichts, die Gewissheit hinauszuzögern.
»Lasst mich raten: Ihr wisst nicht mal, wie man sie ausbrütet, oder?«
»Nein.« Schwefel warf ihm einen Blick zu, der ihm überhaupt nicht gefiel. »Aber dafür habe ich ja dich. Du findest bestimmt heraus, wie das geht.«